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Ein Land voller Massengräber und kaum jemand, der noch ein Kaddisch sagen kann: Auf den Spuren der Shoah in Lettland

Im September 2024 unternahmen Mitarbeitende der Gedenkstätten sowie Mitglieder des Gedenkstättenvereins und MultiplikatorInnen aus dem Osnabrücker Raum und Berlin vom 26. August bis 1. September 2024 eine Reise nach Litauen und Lettland zu Orten der Shoah im Baltikum. Die Reise erfolgte im Rahmen der Ausstellung "Der Tod ist ständig unter uns. Die Deportationen nach Riga und der Holocaust im deutsch besetzten Lettland", die vom 7. April bis 1. September 2024 in der Gedenkstätte Augustaschacht zu sehen war. Die Autorin war eingeladen worden, an dieser Reise teilzunehmen. Sie stellt uns ihren Bericht für diese Veröffentlichung kostenfrei zur Verfügung.

Am 13. Dezember 1941 wurden 35 Osnabrückerinnen und Osnabrücker gezwungen, in einen Zug zu steigen, der sie in mehrtägiger Fahrt nach Riga in Lettland brachte. Sie selber kannten das Ziel nicht. Ihren Besitz mussten sie zurücklassen. Fünfzig Kilo an Gepäck waren alles, was sie mitnehmen durften, und auch wurde ihnen bei der Ankunft weggenommen, als sie mit Eisenstangen aus dem Zug in die eisige Kälte von minus 30 bis 40 Grad geprügelt wurden. Kleine Kinder und alle, die den weiten Weg in das Ghetto nicht schafften, wurden gleich ermordet. „Keiner von uns hat geglaubt, dass so viel Sadismus möglich war“ – dieser Satz stammt von Ewald Aul, einem der fünf Osnabrücker Überlebenden dieser Deportation, später langjähriger Vorsitzender der Jüdischen Nachkriegsgemeinde in Osnabrück.

Diese Reise war nicht leicht, manche Eindrücke nur schwer zu verkraften Es war eine Reise auf den Spuren von Massenmorden, die auch emotional belastete, und dennoch eine Reise mit vielen wertvollen Begegnungen mit Menschen, die sich dafür engagieren, die Menschen, die diesen Morden zum Opfer fielen, der Vergessenheit zu entreißen, wo das noch möglich ist, und ihnen dadurch ihre Würde zurückzugeben. Unter diesen Ermordeten, für die niemand das Kaddisch, das jüdische Totengebet, sprach, sind 30 Osnabrückerinnen und Osnabrücker. Drei davon, die Geschwister Edith, Carl und Ruth-Hanna Stern, waren noch kleine Kinder.

Am 31. Juli 1941 wurde der Leiter des Reichssicherheitshauptamts, Reinhard Heydrich, von Reichswirtschaftsminister Hermann Göring mit der Vorbereitung der Endlösung der Judenfrage beauftragt, der systematischen Ermordung aller europäischen Juden. Im Oktober 1941 ordnete Hitler die Deportation der jüdischen Bürgerinnen und Bürger aus dem Reichsgebiet an. Sie wurden in Transporten von je 1.000 Personen in die Ghettos Lodz in Polen, und Minsk in Belarus, Kaunas und Vilnius in Litauen und das lettische Riga gebracht.

In den Ländern der ehemaligen Sowjetunion wurde der Holocaust über Jahrzehnte verdrängt und tabuisiert. Neue Verbrechen durch das stalinistische Regime überlagerten die Erinnerung an die deutsche Besatzung und die Verfolgung von jüdischen Menschen und anderen Bevölkerungsgruppen. Für die Sowjetunion gab es keine jüdischen Opfer und damit auch keinen Holocaust. Die Ermordeten waren alle Sowjetbürgerinnen und -bürger. Es ging um Heldengedenken, alle Toten galten gleichermaßen als „Opfer des Faschismus“. Die Erinnerung an die massive Beteiligung der einheimischen Bevölkerung an den Morden wird den Litauern und Letten auch heute kaum zugemutet. 

„Noch drei Tage hob und senkte sich die Erde im Hochwald“

Riga war das Ziel der ersten Deportation jüdischer Familien aus Osnabrück. Von November 1941 bis zum Winter 1942 wurden mehr als 25.000 jüdische Deutsche in den Ort in Lettland deportiert. Auch die Familie Stern, die an der Hasestraße wohnte, wurde mit dem sogenannten Bielefelder Transport am 13. Dezember 1941 von Osnabrück nach Riga deportiert, in ungeheizten Personenwagen der Reichsbahn, begleitet von Osnabrücker Schutzpolizisten. Drei Tage und zwei Nächte verbrachten die Menschen bei eisigen Temperaturen in den Waggons. Sie mussten die 1.600 Kilometer ohne Verpflegung oder etwas zu Trinken zurücklegen. Sie wussten nicht, was sie erwartete, nur, dass es schlimm sein würde, wenn man sie schon unterwegs derart menschenunwürdig behandelte. Manche sollen unterwegs vor Angst wahnsinnig geworden sein. 

Bei der Ankunft am acht Kilometer südöstlich von Riga gelegenen Güterbahnhof in Šķirotava herrschten Temperaturen zwischen minus 25 und minus 30 Grad. Dort begegneten die Deportierten einer bis dahin nicht gekannten Brutalität. „In Šķirotava jagte uns die SS mit schweren Stöcken und Eisenstangen aus den Waggons und den langen beschwerlichen Weg nach Riga vor sich her“, berichtete Ewald Aul, einer der wenigen Überlebenden. Wer bei der Ankunft am Bahnhof von Šķirotava den acht Kilometer langen Fußmarsch durch die eisige Kälte in das mit Stacheldraht umzäunte Ghetto in Riga nicht schaffte, wurde gleich nach der Ankunft ermordet. Die Opfer wurden in den Wald von Bikernieki gebracht und dort umgebracht. Ewald Auls Augenzeugenbericht, den er mir für das 1988 erschienene Osnabrücker Gedenkbuch „Stationen auf dem Weg nach Auschwitz“ übergeben hatte, geht mir beim Besuch an den Orten der Shoah in Riga oft durch den Kopf.

Die Bielefelder Straße im Ghetto Riga

Am Vormittag steht unsere Gruppe in Riga vor einem großen Haus mit gelbem Anstrich, das im Ghetto die Adresse Bielefelder Straße 7 hatte. Hier wurden 1941 die Jüdinnen und Juden aus Bielefeld, Münster und Osnabrück einquartiert. Ich erinnere mich an einen weiteren Bericht, den von Irmgard Ohl (geborene Heimbach) – eine Osnabrückerin, die ebenfalls die Deportation überlebte. Sie war 14, als sie nach Riga verschleppt wurde. Irmgard Ohl berichtete, dass die Deportierten bei der Ankunft im Ghetto Wohnungen vorfanden, in denen Töpfe mit eingefrorenem Essen noch auf Herd und Tisch standen und an diejenigen erinnerten, die hier einige Tage vorher verrieben und vernichtet worden waren. Heute herrscht wieder ganz normales Leben an dem einstigen Ort von permanenter Angst, Tod und Leid. Nichts weist auf das ehemalige Ghetto hin oder darauf, was sich auf diesen Straßen abgespielt hat, wo aus den Fenstern Todesschreie drangen. Nichts darauf, dass in diesen Häusern Alte, Kranke und Invaliden in ihren Betten erschossen und Kinder von betrunkenen Nazi-Schergen aus den Fenstern geworfen wurden.

In Riga wurden durch Massenmorde an jüdischen Familien Wohnungen im Gebiet des vorgesehenen Ghettos für die deportierten Juden aus dem Deutschen Reich „frei“ gemacht. Im Sprachgebrauch der Täter wurde das deutsche Wort „Aktion“ zu einem Synonym für „Massenerschießungen“. Die Opfer der „Aktionen“ wurden in den nahegelegenen Wäldern ermordet. Nach der Ankunft des ersten Transports aus Berlin war die Ermordung dieser 1.053 Kinder, Frauen und Männer, da im Ghetto Riga noch kein Platz war, der Auftakt für eine der größten Massenerschießungen des Holocaust. Insgesamt gab es etwa 27.000 Ermordete am 30. November und am 8. Dezember 1941. Die Menschen wurden in das zehn Kilometer entfernte Waldgebiet von Rumbula getrieben, wo sie ermordet wurden. „Wer nicht schnell genug laufen konnte, den trafen Kolbenschläge oder der Schuss ins Genick.“ Der Tag ging als „Rigaer Blutsonntag“ in die Geschichte der Shoah ein.

Die aus Osnabrück Deportierten mussten in die verwüsteten Wohnungen der Ermordeten einziehen. „Das muss man sich mal vorstellen: Im Backofen war noch ein warmer Braten. [...] Wir dachten, sie wären spazieren“, berichtete Wilhelm Polak aus Papenburg. 

Ewald Aul wohnte in dem Haus in der Bielefelder Straße, während er unter extremsten Bedingungen in eisiger Kälte Zwangsarbeit beim Entladen von Schiffen im Hafen leisten musste. Der aus Riga stammende Osnabrücker Kantor Baruch Chauskin, der uns auf der Reise begleitet, wusste nichts von der Existenz des Ghettos, als er 1989 in der Livara-Straße arbeitete. Erst 2010 erfuhr er, dass diese mitten im Ghetto gelegen hatte. Das Schicksal der Menschen aus dem Rigaer Ghetto war auch vor Ort über Jahrzehnte kaum bekannt, und der Holocaust für die Bevölkerung von Lettland lange etwas, „dass die Deutschen den Juden antaten“ und keinen Bezug zur lettischen Geschichte zu haben schien. Wie in anderen baltischen Staaten gab es auch in Lettland unter sowjetischer Herrschaft keine Erinnerung an den Holocaust. Nur wenige lettische Juden versammelten sich vor der Unabhängigkeit des Landes inoffiziell in Biķernieki, um der Ermordeten  zu gedenken, wo meist die Geheimpolizei schon auf sie wartete, um die Versammlung aufzulösen. Erst nach der Unabhängigkeit des Landes fand 1991 eine erste offizielle Gedenkveranstaltung in Lettland statt.

Kleine Kinder als lebendige Zielscheiben

„Holocaust Mass Graves 900 Meter“ steht auf dem Stein aus schwarzem Marmor an einem einsamen Waldweg, der eher aussieht wie ein Grabstein als ein Wegweiser. Es ist eine mehr als ungewöhnliche Reise, bei der man Hinweisen wie diesem folgt. Die meisten Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Reise haben bereits Konzentrationslager besucht. Wir wissen auch, dass viele der 1941 aus Osnabrück nach Riga deportierten jüdischen Menschen in den umliegenden Wäldern ermordet wurden. Dennoch sind wir überwältigt von der Anzahl und der Dichte dieser sogenannten „Erschießungsorte“ – ein Begriff, der vorher nicht zu unserem Sprachgebrauch gehörte, und der plötzlich allgegenwärtig ist. Drei dieser Orte des Grauens besuchen wir an diesem sonnigen Septembertag. Es braucht diese physische Konfrontation mit den Orten, um nicht nur mit dem Verstand, sondern dem Gefühl zu realisieren, dass überall in der idyllischen Landschaft zigtausende Leichen in der Erde liegen, meist, ohne dass es eine Erinnerung an sie gibt. Viele dieser unzähligen Tatorte und Massengräber sind unmarkiert, verwahrlost und weitgehend vergessen – so wie es die Täter beabsichtigten. 

Aus der Stadt fahren wir in das Waldgebiet von Bikernieki. 1941 bis 1945 wurden in diesen Wäldern rund 35.000 Menschen von den Nationalsozialisten und ihren Kollaborateuren erschossen und verscharrt. Teilweise wurden zum Verscharren auch Ghettoinsassen oder sowjetische Kriegsgefangene gezwungen. Sonne fällt durch die hohen Bäume, zartes Grün wächst auf dem Waldboden, gelbe Blüten gaukeln eine Idylle vor, die es nicht gibt. Nie war die Stille in einem Wald so trügerisch. Auf einer Lichtung stehen wir vor einem Areal aus unbehauenen Steinen, dazwischen glänzend polierte schwarze Marmorplatten mit den Namen ländlicher westfälischer Orte wie Telgte, Warendorf oder Borken und Städten wie Berlin, Bielefeld, Hamburg, Hannover und Osnabrück. Was haben diese Namen in einem 1.600 Kilometer entfernten Wald an der lettischen Ostseeküste verloren? In den Massengräbern hier im Wald von Biķernieki liegen Männer, Frauen und Kinder aus all diesen Orten, auch aus Osnabrück. Die jüngsten von ihnen sind die vierjährigen Zwillinge Edith und Carl Stern und ihre siebenjährige Schwester Ruth-Hanna.

Die Gruben, in denen die Ermordeten verscharrt wurden, wurden nicht gekennzeichnet und von den Letten vergessen. Man konnte Familien beim Picknick auf den Massengräbern beobachten. Die Gedenkanlage, vor der wir stehen, wurde erst 2001 vom Riga-Komitee angelegt, in dem inzwischen mehr als 80 Städte aus Deutschland, Österreich, Tschechien und eben Riga selbst vertreten sind. Aber kann man überhaupt an das unvorstellbare Grauen erinnern? Es fällt schwer, sich vorzustellen, was hier vor sich ging, was sich vor den Erschießungen nach den Berichten Überlebender an Vergewaltigungen, Schreien, Nervenzusammenbrüchen von vor Angst wahnsinnig gewordenen Menschen abgespielt hat. Jeannette Wolf, eine Überlebende, berichtete: „Zwei SS-Leute warfen sich die lebenden Zielscheiben, kleine Kinder, zu, während ein dritter schoss.“ Ewald Aul berichtete ebenfalls solche unvorstellbaren Grausamkeiten: „Man warf lebende Kinder in die Luft, um sie dann auf nach oben gerichteten Bajonetten aufzuspießen.“

„Keiner von uns hat geglaubt, dass so viel Sadismus möglich war“, fasste Ewald Aul seine Eindrücke aus Riga zusammen. Ein einflussreicher Osnabrücker erfuhr früh von diesem Sadismus, davon, dass Juden aus Deutschland sich bei eisiger Kälte entkleiden und in ausgehobene Gruben steigen mussten, wo sie mit Maschinengewehren erschossen wurden, dass Granaten hinterher geworfen wurden, dass man ohne Kontrolle, ob alle tot waren, die Gruben zuschüttete. Das alles stand in einem Bericht aus Kaunas vom 14. Februar 1942, den der Osnabrücker Bischof Wilhelm Berning zur Kenntnis erhielt. Ein Bericht von jemand, der selbst an den Erschießungen beteiligt war und der den Bischof zu der Erkenntnis brachte, es bestehe wohl „der Plan, die Juden ganz auszurotten“. Eine frühe Erkenntnis, die er in seinem Tagebuch notierte, aber ebenso wie die Kenntnis von dem Bericht sein Leben lang verschwieg. Die Sterns, deren drei kleine Kinder in einem der Massengräber hier in Biķernieki liegen, waren bis zu ihrer Deportation Nachbarn des Osnabrücker Bischofs gewesen. Sie wohnten an der Hasestraße, in Sichtweite seiner Residenz.

Ein Gedenkstein in der Mitte des Mahnmals will „dem Leid der Ermordeten Worte geben“. „Ach Erde, bedecke mein Blut nicht und mein Schreien finde keine Ruhestatt!“ steht darauf, ein Zitat aus dem Buch Hiob. Felder von eng aneinander stehenden Granitsteinen symbolisieren die angstvoll zusammengekauerten Menschen, Juden, Sinti und Roma, die hier ermordet wurden. Wie an anderen Orten versucht man auch hier, „emotional zu agieren, ohne zu überwältigen“, um auch Menschen ohne historische Vorkenntnisse zu erreichen. Eine neue Ausstellung des Volksbundes informiert in Biķernieki seit 2022 auf Informationstafeln über „das Grauen in den Wäldern von Riga-Bikernieki“ und den Holocaust in Lettland. Sie zeigen auch Bilder der Täter, Männer wie SS-Obergruppenführer Friedrich Jeckeln, Höherer SS- und Polizeiführer Russland-Nord und Ostland, der bereits für die Massenmorde an jüdischen Menschen in Kamenez-Podolsk und in Babyn Jar verantwortlich war, als er die Massaker an den Rigaer Ghettobewohnern anordnete. Auch die 1053 jüdischen Berliner des ersten Transports aus dem Deutschen Reich ließ er, weil die Morde an den Letten am 9. Dezember 1941 noch nicht angelaufen waren, sofort umbringen, obwohl Himmler das zu diesem Zeitpunkt noch untersagt hatte. Jeckeln glaubte, sich durch Massenmord in eigener Initiative im Mordapparat der Nazis profilieren zu können.

Osnabrücker unter den Tätern

Auch Osnabrücker waren unter den Tätern: SS-Hauptscharführer Gustav Sorge, unter dem Spitznamen „Eiserner Gustav“ bekannt, beteiligte sich an der Entwicklung von Genickschussanlagen zur Ermordung sowjetischer Kriegsgefangener in Sachsenhausen. Im Sommer 1943 wurde er zu Jeckeln nach Lettland versetzt und war ab Dezember 1943 Leiter eines Außenlagers des KZ Riga-Kaiserwald. Der Osnabrücker Bürgermeister Hanns Windgassen, der ab 1938 in Osnabrück die „Arisierungen“ vorantrieb, verwaltete ab 1941 als zweiter Stadtkommissar und zugleich Stellvertreter des „Gebietskommissars“ und Oberbürgermeisters Hugo Wittrock in Riga die Wertsachen der deportierten Juden. Er traf hier unmittelbar vor der Deportation aus Osnabrück zum Zeitpunkt der Massaker an den lettischen Juden ein.

Iļja Ļenskis, Leiter des Museums „Juden in Lettland“ (Muzeju Ebreji Latvijā) hat sich meiner Ansicht nach zu Recht dafür ausgesprochen, in Biķernieki auch die Gesichter der Täter zu zeigen. Die deutschen SS-Führer, der auch von Ewald Aul erwähnte Ghettokommandant Krause, Oberscharführer Seck, der spätere Kommandant des Lagers Jungfernhof und viele andere gleichen Kalibers saßen in warmen Pelzmänteln und Winterstiefeln, Zigaretten rauchend, auf Bänken und schauten dem Morden ihrer betrunkenen Henkersknechte in den Wäldern zu. Sauber sehen sie auf den Fotos aus in ihren gutsitzenden Uniformen, die nicht vom Blut der Opfer bespritzt wurden wie die der Schützen.

Blut und Gehirnmasse auf den Uniformen waren auch den Massenmördern unangenehm. Deshalb ging man nach dem anfänglichen Einsatz von Gewehren dazu über, Maschinengewehre zu benutzen, bei denen mehr Abstand eingehalten werden konnte. Ewald Aul sah die SS-Mordkommandos, die mit den schweren Maschinengewehren zum Wald in Biķernieki losfuhren. Abends kamen sie dann total verdreckt und staubverschmiert wieder zurück. Und immer am darauffolgenden Tag kamen dann die Koffer der ermordeten Juden bei ihnen an, deren Inhalt er und andere auf Weisung in einer Dienststelle, die direkt dem Kommandeur der Sicherheitspolizei und des SD in Lettland, Rudolf Lange, unterstellt war, nach Textilien, Lederwaren und Wertgegenständen sortieren mussten. Nach jeweils vierzehn Tagen wurden die Sachen mit einem LKW nach Berlin gebracht. Ein Teil davon wurde von einem Osnabrücker Fahrer namens Offer abgeholt.

Ewald Aul konnte anhand der Koffer, die er ausräumen musste, feststellen, aus welchen Transporten sie stammten. „So konnten wir erkennen, dass viele Transporte gar nicht mehr im Ghetto ankamen, dass man sie gleich nach ihrer Ankunft i  Biķernieki-Wald umgebracht hat.“ 55 Massengräber sind im Wald markiert worden. Irmgard Ohl berichtete, dass viele Erschossene nicht gleich tot waren: „Noch drei Tage hob und senkte sich die Erde im Hochwald.“

Während wir den Weg aus dem Wald mit den Massengräbern zurückgehen, denke ich an einen Satz, den ich zuerst von Ewald Aul gehört habe, der das Morden in Riga überlebte: „Juden würden sich nicht noch einmal wie Schafe zur Schlachtbank führen lassen.“

„Der Tod war fast schon etwas Alltägliches geworden“

In Riga zeigt uns Iļja Ļenski die Reste der Großen Chorals-Synagoge, in der am 4. Juli 1941 Männer unter dem Kommando des lettischen SS-Offiziers Viktor Arājs, ein Antisemit und Nazi-Kollaborateur, über 400 jüdische Männer, Frauen und Kinder einsperrten. Dann warfen sie Handgranaten durch die Fenster und zündeten die Synagoge an. Der Massenmord in der Synagoge in Riga im Juni 1941, lange vor dem Blutsonntag und den Deportationen aus dem Deutschen Reich, war der Auftakt zur Vernichtung jüdischen Lebens in Lettland. Man wollte zeigen, dass die Juden nun Freiwild waren und man sie ungestraft töten durfte. 

Die Männer des „Kommando Arājs“ mordeten zwei Tage in einem Schtetl, zwei Tage im nächsten und vernichteten systematisch die jüdische Bevölkerung und ihre Kultur. Die Taten geschahen in aller Öffentlichkeit.Arājs Männer mit den weißen Armbinden bemühten sich, Unbeteiligte in die Taten zu involvieren. „Gleichsam über Nacht verwandelten sich friedliebende Bauern und Städter in blutrünstige Mörder ihrer jüdischen Nachbarn“, schreiben Eva Gruberová und Helmut Zeller, in ihrem Buch „Taxi am Shabbat. Eine Reise zu den letzten Juden Osteuropas“. „Vor allem daran tragen die Überlebenden noch heute schwer.“ 

Die Reise auf den Spuren der Shoah im Baltikum führt durch viele trügerische Idyllen. Unter der Fassade der schönen Altstadt in Riga liegt eine tiefere Schicht, die Erinnerung an Angst, Hunger und Tod, die hier jahrelang herrschten, als sich dort das jüdische Ghetto befand. Nicht weit von unserem Hotel befand sich der Sitz des Kommando Arājs, dessen Männer als Nazi-Kollaborateure die Hälfte der lettischen Juden ermordeten.

Wir fahren von Riga aus in ein Waldgebiet, das den Menschen des heutigen Ortes Salaspils zur Ruhe und Erholung dient. Auch hier ist das, was man auf den ersten Blick sieht, nur eine Fassade des Vergessenen. Der Wald, durch den ein sanfter Wind weht, wächst auf Massengräbern, der Farn aus einem Boden, in den das Blut Tausender Menschen floss. In einem Massengrab des Lagers Kurtenhof liegen 632 Leichen von Kindern im Alter zwischen fünf und neun Jahren. „Das Stöhnen und Schreien kann man nicht mehr hören, nur der Wind erzählt seit Jahren von der schrecklichen Vergangenheit“, heißt es in einem Lied für die getöteten Kinder von Salaspils. Ich hätte auf dieser Reise oft gerne Blumen dabei.

Als wir uns dem ehemaligen Lager Salaspils nähern, verbirgt ein Gebäude in Form eines Balkens aus Beton die Sicht auf die weiträumig asphaltierte Fläche. „Hinter diesen Mauern weint die Erde“, steht darauf. Riesige Figuren in der monumentalen Formensprache der Sowjetzeit stehen am Ende der bereits 1967 eingerichteten Gedenkstätte Salaspils. Viel stärker als sie wirkt ein weiträumig wahrnehmbares Metronom in einem Marmorblock, das an den Herzschlag der Ermordeten erinnert und das Gefühl von etwas Lebendigem vermittelt an diesem Ort von so viel Tod.

Im Museum erfährt man wieder einmal, wie zynisch die deutschen „Herrenmenschen“ waren, die ihre Mordaktionen „Sommerreise“ oder „Winterzauber“ nannten. Beim „Winterzauber“ wurde Anfang 1943 unter Leitung von Friedrich Jeckeln ein vierzig Kilometer breiter „bevölkerungsfreier“ Streifen geschaffen. An den Vertreibungen und Morden waren lettische, litauische und estnische Polizei-Bataillone beteiligt. In manchen der 5.000 geräumten Dörfer wurden Einwohner in Häusern und Scheunen lebendig verbrannt.

Salaspils: „Hinter diesen Mauern weint die Erde“

Das „Polizeigefängnis“ und „Arbeitserziehungslager“ Salaspils wurde Ende 1941 achtzehn Kilometer südöstlich von Riga errichtet. Deutsche Juden, die nach Riga deportiert worden waren, mussten sich am Aufbau beteiligen. Die Tochter des Osnabrückers Siegfried Heimbach hat beschrieben, wie alle Männer im Ghetto antreten mussten. „Man suchte arbeitsfähige Männer, vom 15. Lebensjahr ab, für das Lager Salas-Pils bei Riga. Beim zweiten Appell wurde auch mein Vater ausgesucht. [...] Mit rauen Worten wurden die Männer von der SS zusammengetrieben und mussten in das 20 km entfernte Lager marschieren. Das Lager Salas-Pils war noch im Aufbau und unsere Männer hausten in ein paar ganz primitiven Holzbaracken.“ Die Gefangenen mussten ihre Behausungen selber bauen. Aufgrund des fehlenden Schutzes vor der Kälte und der mangelhaften Verpflegung war die Sterblichkeit in Salaspils besonders hoch. Viele Männer erfroren.

Als die Baracken standen, mussten die Gefangenen den Rest des zum Konzentrationslager-Komplex gehörenden Lagers aufbauen, damit neue Häftlinge untergebracht werden konnten.

Irmgard Ohl berichtete: „In der ersten Zeit bekamen wir ein paar kleine Zettelchen von meinem Vater [...] Etwas später wurde der Briefverkehr gänzlich untersagt und wir hörten nichts. Mitte März erfuhren wir, dass es in Salas-Pils sehr schlecht sein sollte und wir waren sehr verzweifelt, in dieser Ungewissheit zu sein. Man erzählte von furchtbarem Hunger dort und einer Ruhrepidemie. Eines Tages [...] bekamen wir die furchtbare Nachricht, dass auch mein Vater, wie so viele andere dort, ums Leben gekommen ist. Mein Vater starb am 5. April 1942. Der Tod war fast schon etwas Alltägliches geworden.“

„...habe ich viele Tötungsaktionen mit eigenen Augen gesehen“

Etwa tausend Häftlinge kamen bereits bei der Errichtung des Lagers um. Nur wenige der völlig entkräfteten Häftlinge kehrten nach der Fertigstellung des Lagers im Sommer 1942 in das Rigaer Ghetto zurück. Von den Osnabrückern überlebte nur Josef Grünberg, der sich als Zeuge in einem Todeserklärungsverfahren nach dem Krieg an das Schicksal des 35jährigen Osnabrückers Alexander Wexseler erinnerte: „Er war bereits krank, als ich in Salaspils eintraf. Er litt an Hunger-Typhus, Ruhr und erfrorenen Füßen. Etwa sechs bis sieben Wochen später verstarb er in unserer Baracke. In der Baracke lagen etwa 300 Insassen. Er starb etwa Mitte Marz 1942. [...] Es waren in der Baracke 5 Betten übereinander und die Toten – es starben täglich etwa 20 – wurden sofort weggeschafft.“ In einem anderen Verfahren schilderte Josef Grünberg weitere Details: „Im Lager selbst habe ich viele Tötungsaktionen mit eigenen Augen gesehen. [...] Ich habe gesehen, wie meine Glaubensbrüder öffentlich erhängt und erschossen wurden. Viele haben man auch einfach verhungern lassen. Da immer wieder neue Häftlinge ins Lager gebracht wurden, mussten entsprechend viele sterben. Die Zahl der dort systematisch getöteten Juden beläuft sich auf mehrere Hunderte. Die überlebenden Juden wurden später wieder zum Ghetto Riga zurückgebracht und dort in Arbeitskommandos eingeteilt.“

Jungfernhof: Noch ein Friedhof ohne Gräber

Aus dem Wald fahren wir in eine parkartige Landschaft, eineinhalb Kilometer südlich des Güterbahnhofs Šķirotava und zwölf Kilometer vom Rigaer Stadtzentrum entfernt. Bänke an einem See mit Blick auf eine malerische Ruine laden zum Verweilen ein. Sie scheinen geradezu ideal für ein Picknick. Doch der Ort mit dem harmlos klingenden Namen „Jungfernhof“ war ein behelfsmäßiges SS-Lager für die Ende 1941 ankommenden Transporte von Jüdinnen und Juden aus dem Großdeutschen Reich, und die verfallenen Mauern sind die eines Konzentrationslagers. Die Männer, die hier ab Dezember 1941 eintrafen, wurden in einer großen Wellblechhalle untergebracht, durch deren offene Tore die Kälte ungehindert eindringen konnte, die Frauen in baufälligen Scheunen und Viehställen. Die primitiven Unterkünfte boten keinen Schutz vor den eisigen Temperaturen bis zu minus vierzig Grad. Menschen erfroren, jede Nacht gab es zehn bis zwanzig Tote. Vor dem Gebäude türmten sich die Leichenhaufen auf, weil man sie wegen des gefrorenen Bodens nicht begraben konnte. Schließlich warf man Sprengstoff in den Haufen und vergrub, was von den gefrorenen Leichen übrigblieb. „Juden gäben guten Dünger“, meinte Lagerkommandant Rudolf Seck. Wo der Großteil der Leichen geblieben ist, ist trotz intensiver Suche noch immer unklar. Man vermutet sie unter den angrenzenden Kleingärten, wo man nicht nach ihnen graben kann. Wissen die Menschen dort, dass sie möglicherweise Gemüse ernten, das auf Gräbern wächst?

Janis Lipke baut ein Versteck unter seinem Haus

In Lettland gab es wie in Litauen viele Kollaborateure, aber es gab auch Helfer. 138 Lettinnen und Letten erhielten für die Rettung jüdischer Mitbürger den von der Gedenkstätte „Yad Vashem in Jerusalem verliehenen Titel „Gerechter unter den Völkern. Jānis Lipke, ein Lagerarbeiter aus Riga, schmuggelte ab Juli 1941 Juden aus dem Rigaer Ghetto und organisierte Verstecke im Umland. Auf diese Weise bewahrte er bis zum Einmarsch der Roten Armee im Oktober 1944 etwa 56 Menschen vor Ermordung durch die Nazis. Wir besuchen das kleine, aber inhaltlich und architektonisch beeindruckende Museum, das den geräumigen Bunker zeigt, den Lipke und seine Helfer von Hand heimlich unter dem Haus aushoben, um jüdische Menschen darin zu verstecken. Bei einer sehr informativen und sympathischen Führung erfahren wir mehr von den Menschen, die hier Zivilcourage gezeigt und Menschlichkeit gelebt haben, und dem didaktischen Konzept. Die Gedenkstätte versucht, möglichst authentisch die Umstände zu zeigen, die zu der Zeit von Lipke an diesem Ort herrschten. In die Rettungsaktion waren neben seiner Frau Johanna und seinen beiden Söhnen rund 25 weitere Helferinnen und Helfer involviert. 

„Die Unsrigen“?

Nach der Befreiung mussten Juden in Lettland weiter unsichtbar bleiben: Jüdische Traditions- und Religionsausübung war während der Sowjetzeit verboten. Viele Jüdinnen und Juden wanderten in den 1970er Jahren aus. Nach der der lettischen Unabhängigkeit 1991 verließen erneut etwa 13.000 jüdische Menschen Lettland, um in Israel zu leben. 1920 waren in Riga 30 Prozent der Bevölkerung jüdisch, heute machen Jüdinnen und Juden noch 0,3 Prozent der lettischen Bevölkerung aus.

Sprechen Letten von „Latwijskis“, sind alle Ethnien in Lettland gemeint. Die Bezeichnung schließt Jüdinnen und Juden ein. „Latisskij“ dagegen bezieht sich nur auf die nichtjüdischen Letten. Während die meisten Deutschen, die sich mit dem Thema auseinandersetzen, inzwischen begriffen haben, dass es „Juden und Deutsche“ nur in der Ideologie der Nationalsozialisten gab, und die Deutschen mit jüdischer Religion engagierte Patriotinnen und Patrioten waren, ist die Erkenntnis, dass die ermordeten Juden die eigenen Leute waren, in Litauen und Lettland noch nicht richtig angekommen. Vielleicht hat das noch mit der langen Zugehörigkeit zur Sowjetunion zu tun. In den sowjetischen Personalausweisen gab es eine Spalte „nacional’nost“ (Nationalität), in der bei Juden „Evrej“ („Hebräer“, Jude) stand. 

Man beginnt bei dieser Reise das Ausmaß des Mordens zu begreifen, das flächendeckend überall im Osten vor sich ging. Das erkennt man am ehesten daran, was nicht mehr da ist: Jüdische Menschen – in einem Land, in dem sie vielerorts keine verschwindend kleine Minderheit waren wie in Deutschland 1933, wo Juden einen Bevölkerungsanteil von durchschnittlich 0,77 Prozent und selbst in Großstädten wie Berlin gerade mal 4 Prozent hatten, sondern in vielen Orten wie Vilnius oder Višķi die Mehrheit der Bevölkerung, in Riga ein Drittel stellten.

Wir sind durch eine Landschaft voller Massengräber gereist, in der kaum noch jemand da ist, der ein Kaddisch, das jüdische Totengebet, für die ermordeten jüdischen Menschen sagen kann. Wenn Baruch Chauskin an Orten wie in Rumbula das Totenlied „Male Rachamin“ singt, merkt man dem Mann, der so schön und so gerne singt, an, wie schwer das für ihn ist. In diesem Lied werden, soweit bekannt, die Orte, aus denen die Menschen kamen, erwähnt. Es ist ein wichtiger, würdevoller Akt der Erinnerung und ein Ausdruck von Trauer, der an diesen Orten von großer Bedeutung ist. Allen an dieser Reise Teilnehmenden ist die Erinnerung an die vielen vergessenen Opfer wichtig.

Die Bilder und Geschichten und der Gesang des Kantors an den Gräbern in den litauischen und lettischen Wäldern wirken noch lange nach. Es wäre gut, wenn man auch in Osnabrück daran erinnern würde, was die Hansestadt mit der an der Düna verbindet. Anders als zum Beispiel in Düsseldorf gibt es in Osnabrück keinen Lern- oder Erinnerungsort und auch keine Veranstaltungen, die an die massenhafte Deportation von jüdischen Menschen aus Osnabrück erinnern. Es handelte sich um insgesamt 35 Personen aus der Stadt selbst. Weitere 477 Menschen aus dem gesamten Zuständigkeitsbereich der Gestapostelle Osnabrück wurden mit Omnibussen nach Osnabrück gebracht, um von hier deportiert zu werden. Die kleine, leicht zu übersehende Gedenktafel am Altbau der Pottgrabenschule, in deren Turnhalle die Deportierten die letzte Nacht vor dem Abtransport nach Riga verbrachten, ist die einzige Erinnerung an diese Ereignisse. Sie nennt nicht einmal die Zahl der Deportierten und macht das Ausmaß des Grauens nicht klar, das hier für 500 jüdische Menschen begann und in einem Massengrab in den lettischen Wäldern endete. Auch die verstreut in der Stadt liegenden Stolpersteine vermögen das nicht. 

Anders als bei der Pogromnacht, bei der Kantor Baruch Chauskin Riga jedes Jahr im Totengesang Male Rachamim erwähnt, finden an den Jahrestagen der Deportationen von Osnabrück nach Riga, Theresienstadt und Auschwitz keine regelmäßigen Veranstaltungen statt. Man könnte an sie zum Beispiel mit einer Filmaufführung erinnern. Im Oktober 1991 reisten die inzwischen verstorbenen Osnabrücker Holocaust-Überlebenden Ewald Aul und Irmgard Ohl mit dem Berliner Filmemacher Jürgen Hobrecht und dem damaligen Bundestagsabgeordneten der Grünen, Winfried Nachtwei, noch einmal zu einer Spurensuche nach Riga. Der Dokumentarfilm „Wir haben es doch erlebt…“ über das Ghetto von Riga erzählte erstmals die Geschichte des Ghettos vollständig aus der deutschen und der lettischen Teil-Perspektive.

Die Reise auf den Spuren des Holocaust im Baltikum wird 2025 wiederholt.

 

Link zum von Baruch Chauskin gesungenen Male Rachamim: https://www.youtube.com/watch?v=BOqRM1-zyN4